DER ANTHROWHISTLER

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Memorandum für ein Umdenken in der anthroposophischen Bewegung

In der anthroposophischen Bewegung wird selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Anthroposophie Antworten auf die Herausforderungen der Pandemie hat. Michaela Glöckler, ehemals eine Koryphäe innerhalb der anthroposophischen Bewegung und Ärztin, hat ein Memorandum verfasst, in dem sie ein Umdenken in der Coronakrise fordert.

http://www.anthroposophie-lebensnah.de/lebensthemen/covid-19/memorandum-fuer-ein-umdenken-in-der-corona-politik/?fbclid=IwAR38UMSl3ObrQODX-otuUI3mfW_X6r7BsILs75dRECXsWgDRUJdBVmDhd5U

Viele Menschen fragen sich, wieso gerade die Anthroposophie? Ist es nicht diese Weltanschauung, die sich über allen Dingen wähnt, Antworten auf alles weiß, eine Rassenlehre vertritt, dem Anti-Semitismus nicht abgeneigt ist, einen Hellseher von Anfang des 20.Jahrhunderts anbetet? Warum soll eine skurille Weltanschauung wie diese Antworten auf die drängenden Fragen der Gegenwart haben?

Welche Denkweise liegt dem anthroposophischen Querdenken zu Grunde? Es ist die okkulte Denkweise. Sie sieht im Weltgeschehen einen Ausdruck des Wirkens von geistigen Wesen, die ihren Einfluss geltend machen wollen. Dieser Bezug auf geheime im Hintergrund laufende Prozesse macht die Anthroposophie offen für andere Verschwörungsmythen, die gegenwärtig die Welt erklären wollen.

Der anthroposophische Denkansatz sieht nicht im Virus die Ursache für die Pandemie sondern im schwachen Immunsystem der gefährdeten Menschen. Es würde durch den Materialismus, also einer Weltanschauung, die nicht auf Estoterik basiert, geschwächt werden. Er sieht die Lösung in der Zuwendung zu einer esoterischen, sprich anthroposophischen Weltanschauung. Käme es nicht zu dieser Umkehr, prophezeit dieser Denkansatz Weltuntergangsszenarien.

Die Menschheit braucht jetzt keine neue Esoterik. Eine strikte Lockdownpolitik dämmt das Infektionsgeschehen ein. Das haben andere Länder vorgemacht. Darüber hinaus wird das Immunsystem durch die Impfung geschult, gegen das Virus vorzugehen. Der anthroposophische Denkansatz will den Menschen dazu bringen, sein Immunsystem selbst zu stärken, am besten durch eine anthroposophische Lebensweise. Kollateralschäden in Form von Erkrankungen derjenigen Menschen, die zu schwach sind, ihr Immunsystem zu stärken, werden in Kauf genommen und mit Karmawirkungen erklärt.

Fazit: Die Anthroposophie sieht ihre Chance gekommen, entscheidend in die Weltentwicklung einzugreifen. Ihre Vertreter billigen es, wenn sie dabei neben Zeitgenossen stehen, die völkisches Denken und Verschwörungsmythen vertreten. Sie verstehen nicht, warum ihr Denkansatz nicht allgemein anerkannt ist. Zur Bekämpfung der Pandemie braucht es keine Umkehr zur Esoterik. Eine positive Lebenseinstellung, eine religiöse Gesinnung, erhöht sicher die Lebensqualität. Wenn diese aber nur die eigene Weiterentwicklung sehen will und das Leid anderer mit deren inneren Schwäche erklärt, wird sie zu einer fanatischen Gesinnung, zumal in der Anthroposophie der Personenkult um Rudolf Steiner sie als sektenähnliche Bewegung charakterisiert. Jetzt ist Solidarität unabhängig von der Weltanschauung gefragt. Eine Impfung aus ideologischen Gründen abzulehnen, ist unsolidarisch. Sich extremen Bewegungen anzuschliessen, ist gefährlich. Die anthroposophsiche Bewegung sollte sich zurückhalten und die Pandemie nicht zur Profilierung oder Eigentherapie missbrauchen.

Zehn Coronaleugner

Zehn Coronaleugner machten sich nichts aus Zahlen,
Wollten sich des Lebens erfreun.
Da waren‘s nur noch neun.

Neun Coronaleugner hielten fest am Glauben,
Besuchten doch die Andacht.
Da waren‘s nur noch Acht.

Acht Coronaleugner brachen alle Regeln.
Sie hielten sie für übertrieben.
Da waren‘s nur noch sieben.

Sieben Coronaleugner ignorierten den Abstand;
Verstanden nicht den Zweck.
Da waren‘s nur noch sechs.

Sechs Coronaleugner machten ihren Laden auf,
Sorgten sich um ihre Einkünft‘
Da waren‘s nur noch fünf.

Fünf Coronaleugner hassten ihre Masken.
Besorgten sich Befreiungspapier.
Da waren‘s nur noch vier.

Vier Coronaleugner liebten ihre Freiheit
Und lebten maskenfrei.
Da waren‘s nur noch drei.

Drei Coronaleugner witterten Verschwörung,
Sahen Geheimnistuerei.
Da waren‘s nur noch zwei.

Zwei Coronaleugner umarmten sich innig,
Denn sie fühlten sich alleine.
Da war es nur noch eine.

Wie kann sich die Anthroposophie erneuern?

Die Weltanschauung der Anthroposophie hängt in der Vergangenheit fest. Es wird immer noch an Rudolf Steiner als weiser Lehrer festgehalten. Er wird von Anthroposophen verehrt wenn nicht angebetet. Entgegen den Beteuerungen der Anthroposophen selbst hat sie sich zu einer skurrilen Sekte entwickelt, der die Anhänger weglaufen. Gegen den Trend läuft die Beliebtheit der anthroposophischen Produkte und Dienstleistungen. Es dürfte aber zu erwarten sein, dass bei zunehmender Aufklärung des Konsumenten über die Esoterik der Anthroposophie die Beliebtheit abnimmt.

Als die Anthroposopohie vor hundert Jahren entstanden ist, war sie die Antwort auf die Frage vieler Sinnsuchender nach einer neuen Weltanschauung. Sinnsuchend war die bürgerliche Elite, die Zeit für Luxusprobleme hatte, um ihre Langeweile zu füllen. Rudolf Steiner, dessen akademische Karriere gescheitert war, erkannte die Nachfrage nach plausiblen Erklärungen mit esoterischen Hintergrund und baute ein Lehrgebäude auf, das jedem etwas bot und ihm ein lukratives Einkommen verschaffte.

Es hat sich in hundert Jahren eine esoterische Strömung mit vielfältigen praktischen Anwendungen entwickelt. Dass das Lehrgebäude sich in dieser Zeit sich nicht weiter entwickelt hat, ist heute weitgehendst unbekannt. Nur die wenigen ernsthaften Anthroposopohen beschäftigen sich damit. Kritiker decken die skurrilen Elemente der anthroposophischen Lehre zunehmend auf. Dazu gehören die anthroposophische Rassenlehre, magische Rituale, ein sich als Wissenschaft ausgebender Anti-Semitismus, astrologische Elemente in der Pädagogik… Sprachen diese Elemente am Anfang des 20. Jahrhunderts den Sinnsuchenden an, sind sie heute abstossend und nicht mehr zeitgemäß. Völkisches, anti-semitisches Denken war zu dieser Zeit in Mitteleuropa gang und gäbe. Pseudoreligiöse Rituale sprachen den von der Kirche enttäuschten Sucher an.

Die okkulten Elemente der Anthroposophie stossen moderne Zeitgenossen verständlicherweise ab. Sie gehören in eine längst vergangene Zeit. Da sich die Anthroposophie selbst als Geisteswissenschaft versteht, hält sie diese okkulten Elemente natürlich für unabdingbar. Dieses Festhalten an überholten Anschauungen wird ihr Ende sein. Rudolf Steiners Geschick war es, die Zeichen seiner Zeit zu erkennen und etwas aufzubauen, was lange Bestand hatte.

Wenn sich die Anthroposophie wirklich erneuern will, wäre der erste Schritt, die Vergangenheit loszulassen und von Null anzufangen. Rudolf Steiners Werke müssen in die Tonne. Eine ehrliche Distanzierung von seinen Aussagen wäre der nächste Schritt. Wünschenswert wäre danach, dass die Anthroposophen sich ihrer Überheblichkeit bewusst werden würden. Ohne den Bezug zu Rudolf Steiner könnte es ihnen gelingen, sich vom hohen Ross der höheren Erkenntnisse zu begeben und auf Augenhöhe mit den Mitmenschen in Beziehung zu treten. Dann könnten sie vielleicht auch wahrnehmen, was in der Gegenwart an Erneuerungsimpulsen lebt.

Es wäre eine anthroposophische Geste, wenn die Anthroposophie von heute sich von der Vergangenheit löst und alles vergisst, was der Doktor gesagt hat; wenn sie sich bewusst auflöst und wieder von vorne, aber dieses Mal unter Einbezug der Gegenwart, anfängt. Dass sich daraus etwas Neues entwickelt, was überhaupt nichts mehr mit der alten Anthroposophie zu tun hat, ist natürlich. Die Zeichen der Zeit fordern den Anthroposophen zu diesem radikalen Schritt auf, der diesem natürlich Angst macht. Aber es wird ihm nichts anderes übrig bleiben, wenn er sich weiterentwickeln will.

Anthroposophen im Zeitgeschehen

Zur Zeit tun sich Anthropsophen dadurch hervor, dass sie sich als Minderheit fühlen, die gegen die großen Umbrüche der Gegenwart kämpft.

  • Die Pandemie ist eine vom Widersacher Ahriman geplante Prüfung der Menschheit. Die Anthroposophen sehen ihre Chance gekommen, dem Rest der Welt endlich ihre rettende Weltsicht zu erklären.
  • Sie glauben an geheimnisvolle Zusammenhänge wie z.B. an die Wirkungsweise homöopathischer Medizin. Sie schreiben einem homöopathischen Mittel, das keinen Wirkstoff enthält, übersinnliche Qualitäten zu.
  • Sie sind gegen Eingriffe in die menschliche Freiheit wie das Impfen.

Sie sehen sich als letzte Bastion gegen das Böse, das die Menschheit kontrollieren will. Das ist eine irre Selbstüberschätzung, doch die Anthroposophen meinen das ernst. Sie glauben wirklich daran. Wie soll man als Zeitgenosse mit diesem Phänomen umgehen:

  • Mitleid empfinden für eine kleine Gruppe harmloser Spinner?
  • Wachsamkeit gegenüber religiösen Fanatikern, die sich radikalieren könnten?
  • Ignorieren?

Ich denke, dass es eine Mischung aus allen drei Elementen braucht. Eine wehrhafte Demokratie muss wachsam sein gegenüber zersetzenden Elementen. Die anthroposophische Bewegung sollte gut beobachtet werden. Gerade ein Bewegung, die sich ignoriert fühlt, könnte zu radikaleren Mitteln greifen, um gehört zu werden. Ich denke, die Sozialpsychologie sollte sich mit dem anthropsophischen Phänomen beschäftigen, um Aussteigerprogramme zu entwickeln.

Warum fühlen sich Anthroposophen von der rechten Ideologie angezogen? Versuch einer Erklärung

Es wird oft kritisiert, dass Anthroposophen sich von rechter Ideologie angezogen fühlen. Sie seine anfällig dafür. Dabei wird auf die anthroposophische Rassenlehre und antisemitische Aussagen Rudolf Steiners verwiesen. Während der NS-Diktatur hätten doch führende Persönlichkeiten des Regimes durchaus Sympathie für die Anthropospophie gezeigt. In der aktuellen Pandemie versammeln sich querdenkende Anthroposophen Seite an Seite mir Neonazis und Rechtsradikalen.

Wie kann das sein, wenn in der anthroposophischen Praxis so viel Gutes getan wird. In der öffentlichen Wahrnehmung steht Anthroposophie für gute Erziehung. Werden in den Waldorfschulen die Kinder nicht in Freiheit erzogen, damit sie ihre Persönlichkeit frei von Zwang entfalten können? Sind die Betreuer in anthroposophischen Behinderteneinrichtungen nicht bekannt für ihre aufopferungsvolle Arbeit und ihren humanen Umgang mit schwierigsten Menschen? Konsumenten schätzen das gesunde Essen, die sanfte Medizin und den ökologischen Landbau bei den Anthroposophen. Würde das alles nicht eher eine Verwandtschaft mit linker Ideologie bedeuten?

Ich muss mich auch selbst fragen, der über 30 Jahre in anthroposophischen Einrichtungen tätig war, der den anthroposophischen Schulungsweg gegangen ist und ein Anhänger Rudolf Steiners war: Bin ich anfällig für rechte Ideologie? Aus meiner Erfahrung heraus will ich erklären versuchen, warum Anthroposophen vielleicht mit rechtsextremen Ideen sympathisieren. Veranschaulichen will ich es, indem ich mich an Schlagworten orientiere, welche die positive Wahrnehmung der Öffentlichkeit grob beschreiben: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Also der Slogan der französischen Revolution, vielleicht der Inbegriff linker Rebellion gegenüber einem streng konservativen Regime.

Freiheit: Der Anthroposoph sieht sich als Verfechter der Freiheit des Individuums. Er hat ausgiebig das philosophische Grundwerk Rudolf Steiners studiert. Die freie Tat ist ihm das höchste Ideal. Da die freie Tat großen Mut erfodert, ist er stolz auf sich, wenn er das getan hat, wovor er am meisten Angst gehabt hat. Er arbeitet beständig daran, sich zu überwinden. Er stellt sich schwierigsten Situationen. Gerade in der Behindertenarbeit hat er mit herausfordernden Menschen zu tun. In schon fast masochister Weise sucht er die schwierigsten Situationen, um an ihnen zu reifen. Aber er erwartet das auch von seinen Mitmenschen; nicht nur in seiner nächsten Umgebung, sondern auch im Rest der Welt. Wenn jeder Mensch den anthroposophischen Schulungsweg gehen würde, wäre die Menschheit schon viel weiter. Das Problem ist, dass der Rest der Menschheit das gar nicht will. Aus dem Frust heraus, dass ihm niemand zuhört, könnte der Anthroposoph ungeduldig werden. Er weiß doch, was die Menschheit tun muss. Wenn sie nicht hören will, dann muss sie zu ihrem Glück gezwungen werden. Somit ist der Weg zum Faschismus nicht weit.

Brüderlichkeit: Besucher von anthroposophischen Einrichtungen schätzen die besonders menschliche Stimmung, die dort herrscht. Man ist nett zueinander. Die Ästhetik der Innen- und Aussenarchtitektur wird gelobt. Immer steht ein Strauß Blumen auf dem Tisch. Doch hinter der Fassade des Leichten, Heiteren und Schönen steht der nach Vollkommenheit strebende ernste Anthroposoph. Er übt stetig an der Ausbildung höherer Sinnesorgane und studiert die Schriften Rudolf Steiners, um die Welt zu verstehen. Dadurch weiß er Bescheid. Er ist der Einweihung näher als zum Beispiel jene Kritiker, die nicht verstehen, was die Anthroposophie eigentlich für die Menschheit bedeutet. Diese Andersdenkenden sind ihm ein Gräuel. Vor allem, wenn sie unter seinen Kollegen sind. Dann wird der Anthroposoph besonders kreativ und versteht es, den Andersdenkenden so zu vergraulen, dass es nach aussen als gute Tat erscheint.

Gleichheit: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Für den Anthroposophen eine Selbstverständlichkeit und täglich gelebt. Anthroposophische Einrichtungen, wie ich sie erlebt habe, werden oft vom Kollegium selbstverwaltet. Es gibt keinen Chef. Jeder bringt sich ein und tut sein Bestes. Ungerechtigkeit wird nicht geduldet. Doch da die Anthroposophie höheres Wissen beinhaltet, das nicht von jedem erlangt werden kann, entwickelt sich notwendigerweise eine Elite von Eingeweihten, die mehr wissen als der Rest. Meistens sind das diejenigen, die das Werk Rudolf Steiners jahrzehntelang studiert haben; die eine anthroposophische Einrichtung aufopferungsvoll aufgebaut haben; oder die eine innige Beziehung zu dem Geistwesen pflegen, das der Schirmherr der Einrichtung ist. Dank ihrer Erleuchtung sind diese Eingeweihten befugt, die wesentlichen Entscheidungen zu treffen, welche die Richtung vorgeben. Wo kämen wir denn da hin, wenn da jeder etwas zu sagen hätte.

Die Anthroposophen sind also wirklich tolle Menschen. Sie wollen nur das Beste für uns. Aber aufgrund ihrer esoterischen Weltanschauung sind sie auch anfällig für rechte Ideologie.

Vorletzter Beitrag

Meine Fragen an die Lehrkräfte der Waldorfschulen. Als Replik auf die unten abgebildeten Fragen.

Biologielehrer: Die Evolutionslehre ist eine der besten belegten Theorien in der Naturwissenschaft. Warum müssen Waldorflehrer in ihrer Ausbildung die anthroposophische Kosmologie lernen?

Geschichtslehrer: Warum wird in Waldorfschulen den Kindern von Atlantis und Lemurien als historische Kulturepochen erzählt?

Deutschlehrer: Warum wird nicht erkannt, dass die Lyrik Rudolf Steiners grottenschlecht ist? Sie besteht aus einer geschwollenen Sprache, die den Zuhörer mit Inhalt erschlägt. Sie ist eine schwer-verdauliche Kost.

Eurythmielehrer: Wann erkennen sie endlich, dass mit getanzten Hallelujas keine Welt zu retten ist?

Sportlehrer: Warum erkennen sie nicht an, dass Fußballspielen Spass bringt?

Lehrer für politische Bildung: Warum erklären sie nicht, dass mit unbewiesenen Behauptungen verantwortlich umgegangen werden sollte und sie nicht als Tatsachen hinzustellen.

Mathematiklehrer: Warum erklären sie den Coronaverharmlosern in ihren Reihen nicht, was exponentielles Wachstum bedeutet?

Werdegang

Rudolf Steiners Werdegang

Rudolf Steiner wurde in einfachen Verhältnissen Ende des 19.Jahrhunderts geboren. Sein Vater war Bahnhofswärter und ist mehrmals mit seiner Familie innerhalb der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn umgezogen. Der kleine Rudolf hat die Spannungen innerhalb des Vielvölkerstaates mitbekommen. Er gehörte der deutschsprachigen Minderheit im ungarischen Teil an. Als Kind hat er hautnah die Errungenschaften der Technik mitbekommen, wenn er tagtäglich die lauten und mächtigen Dampfloks vorbeifahren sah. Das hat sicher Eindruck auf ihn gemacht.

Sein naturwissenschaftliches Interesse und die überdurchschnittliche Intelligenz erlaubten ihm ein Studium an der technischen Hochschule in Wien mit dem Ziel einen angesehenen Beruf wie den des Ingenieurs zu erlernen. Seine Eltern sahen das sicher mit Stolz. Allerdings hat der junge Rudolf Steiner seine philosophischen und literarischen Interessen verfolgt und das Studium vernachlässigt. Er wurde Schützling eines Professors, der sein Talent erkannte und ihn als Herausgeber der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes vorschlug. Für einen jungen Studenten war dies eine grosse Chance. Doch barg es auch die Gefahr, sich selbst zu überschätzen, wenn man schon in jungen Jahren so heraussticht.

Steiner hat sein Studium vorzeitig abgebrochen und sich auf die Herausgebertätigkeit konzentriert. Für seine Eltern war das sicher schwer nachzuvollziehen, dass er sich einer brotlosen Kunst verschrieb. Steiner nahm jedes Angebot zur Veröffentlichung an und schrieb unablässig. Meistens ging es um Beiträge für enzyklopädische Bände. Er verfasste auch eigene philosophische Bücher.

Als Schub für seine angestrebte akademische Karriere war der Gang nach Weimar und die Arbeit im Goethe-Schiller-Archiv geplant. Seine Karriere kam aber nicht voran. Seine Schriften wurden respektiert, verhalfen ihm aber nicht zum Durchbruch. Er schrieb allerlei kleinere Beiträge, um über die Runden zu kommen. Aus der angestrebten Professur an einer angesehenen Hochschule wurde nichts. Privat pflegte er eine Beziehung zu einer älteren Witwe mit mehreren Kindern, die ihn in seine Wohnung aufnahm und die er später auch heiratete.

Als es offensichtlich wurde, dass seine akademische Laufbahn gescheitert war, entschloss sich Steiner Herausgeber einer Literaturzeitschrift in Berlin zu werden. Er schrieb selbst etliche Artikel und veröffentlichte daneben philosophische Bücher, was ihm zumindest zu einem Doktor der Philosophie verhalf. Steiners finanzielle Situation wurde prekär. Er musste jede Art von Dozententätigkeit annehmen, um zu überleben. Es muss dem damals 39jährigen Steiner als Wink des Schicksals vorgekommen sein, als er doch noch Anerkennung bei den Theosophen fand.

Dank seiner Intelligenz und Erfahrung als Herausgeber konnte Steiner die komplexe östlich orientierte Theosophie verständlich darstellen. Er las sich in die theosophische Literatur hinein und vermochte es, religiöse Themen wissenschaftlich plausbiel zu erklären. Einem religiös zweifelnden und auf Sinnsuche befindlichem Publikum erschien der charismatische Steiner natürlich als erleuchteter Eingeweihter. Schnell wuchs ein Einkommen und er wurde zur Führungspersönlichkeit innerhalb der theosophischen Bewegung. Eine jüngere Frau ersetzte die ältere Witwe an seiner Seite.

Steiner entwickelte für seine wachsende Anhängerschaft mit der Anthroposophie seine eigene Weltanschauung. Seine Arbeitsbelastung war enorm. Neben der regen Vortragstätigkeit musste die Bewegung organisiert werden. Ohne leistungssteigernde Drogen wie Kokain war diese Belastung nicht zu bewältigen. Sie erlaubten ihm, fast ohne Schlaf auszukommen. Andererseits verzehrte er auf diese Weise seinen Körper, was schliesslich zu einem frühen Tod führte. Darüberhinaus führt Drogenkonsum zu bewusstseinserweiternden Zuständen mit Visionen oder schlimmstenfalls zu einer Psychose. Es wäre plausibel, wenn Steiners Hellsehen auf seinen Drogenkonsum zurückzuführen sind.

Was macht es psychologisch mit einem Menschen, der von Kind auf für Höheres vorgesehen ist, der als junger Mann für eine verantwortungsvolle Aufgabe auserwählt wird und letztendlich scheitert, um dann plötzlich als geistiger Führer von einer grossen Anhängerschaft angebetet zu werden? Solche extremen Entwicklungen verbunden mit dem Konsum von persönlichkeitsverändernden Substanzen können einen Menschen schon entgleisen lassen.

Es gibt durchaus Parallelen zwischen der Entwicklung der anthroposophischen Bewegung mit der Entstehung von Sekten in der Neuzeit unter der Führung einer charismatischen Persönlichkeit. Der ausgeprägte Personenkult, die kritiklose Annahme des gesprochenen und geschriebenen Wortes, das Gefühl zu den Auserwählten zu gehören, die das bevorstehende Weltenende überleben werden.

Anthroposophische Praxis

Die Anthroposophie ist nicht eine theoretische Weltanschauung geblieben, die sich vor hundert Jahren im Kopf eines Philosophen gebildet hat. Sie hat den Weg in praktische Tätigkeitsfelder gefunden, die auch nach hundert Jahren attraktiv für viele Menschen sind. Anthroposophen würden stolz sagen: „Seht her, es funktioniert doch!“

Diese Praxisfelder sind die folgenden: Waldorfpädagogik, Biologisch-dynamische Landwirtschaft, Anthroposophische Medizin, Heilpädagogik, anthroposophisch inspirierte Kunst. Bei letzterer ist einschränkend zu bemerken, dass die Kunst und insbesondere die Eurythmie nicht den Durchbruch geschafft hat und ein Nischendasein führt bzw. nur bei Anthroposophen selbst beliebt ist.

In diesen Praxisfeldern ist die praktische Ausführung der Anthroposophie in der Gesellschaft angekommen. Jeder kennt die Waldorfschulen. Demeter-Produkte werden konsumiert. Homöopathische Heilmittel stehen in der Hausapotheke. Anthroposophische Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung sind überall zu finden. Kurz gesagt: Die Anthroposophie funktioniert doch. Dann muss doch etwas an ihr dran sein.

Etliche Menschen weltweit haben mit anthroposophischen Produkten oder Dienstleistungen zu tun. Etliche Menschen arbeiten weltweit in anthroposophischen Einrichtungen. Insgesamt dürfte die Zahl im Millionenbereich liegen, die direkt oder indirekt mit der Anthroposophie zu tun haben.

Es hat eine Nachfrage nach alternativen Produkten, pädagogischen Konzepten, gesünderen Lebensweisen und menschlicheren Umgang miteinander gegeben. Die anthroposophischen Praxisfelder bieten etwas, was ankommt. Es gibt heute im Allgemeinen ein tieferes Bewusstsein für die Mitmenschen, die Umwelt und die eigene Gesundheit als noch vor hundert Jahren. Diese Bewusstwerdung fand parallel zur Entwicklung der anthroposphischen Bewegung statt.

In der Waldorfpädagogik wird mehr auf die Kindesentwicklung als auf Wissensaneignung geschaut. Kunst, Bewegung und Spiel sind wesentlicher Bestandteil des Schulbetriebs. Sie wird als gesunde Alternative zu den herkömmlichen Lernfabriken gesehen. Mittlerweile hat sich aber in der allgemeinen Pädagogik viel getan. Die Schule von heute vermittelt nicht mehr nur noch Wissen. Sie bildet den ganzen Menschen.

Anthroposophische Medizin ist nur eine von vielen alternativen Behandlungsmethoden auf dem Markt. Eine sanftere Medizin, die den ganzen Menschen anschaut, wird gesucht. Der ganzheitliche Ansatz, der sich Zeit für den Patienten nimmt und ihn auch seelisch behandelt, findet Zuspruch. Es wird auch in der Schulmedizin inzwischen erkannt, dass der Mensch mehr als eine Maschine ist. Psychosomatische Ursachen von Erkrankungen werden heute mehr gesehen.

Viele junge Leute zieht es während der beruflichen Orientierung in anthroposophische Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung. Sie machen dort ein Praktikum und bleiben nicht selten länger als vorgesehen oder absolvieren sogar eine Ausbildung. Der menschliche Umgang mit herausfordernden, schwierigen Menschen beeindruckt nicht nur die junge Generation. Aber auch in diesem Bereich hat sich in den letzten hundert Jahren viel getan. Vor nicht allzu langer Zeit wurde ein geistig behinderter Mensch noch hospitalisiert. Heute spricht man von Inklusion und Teilhabe von geistig behinderten Menschen. Da hat eine positive Entwicklung stattgefunden und sie wird sich auch fortsetzen.

Die anthroposophischen Institutionen, Dienstleistungen und Produkte haben positive Impulse gesetzt. Sie sind Teil der Gesellschaft. Hat dieses Phänomen mit der anthroposophischen Weltanschauung zu tun?

Nun ist diese Weltanschauung befremdlich. Sie arbeitet mit seltsamen und neuartigen Begriffen, hat Anleihe bei östlichen Religionen genommen, ist tief christlich geprägt, beinhaltet eine anthroposophische Rassenlehre und beruft sich auf einen selbsterannten Hellseher vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Anthroposophen glauben an geheimes Wissen, das nur Eingeweihten zugänglich ist. Rudolf Steiner, ihr Lehrer, war ein hoher Eingeweihter. Seine vor hundert Jahren gemachten Aussagen sind unumstösslich, auch wenn sie aus heutiger Sicht fragwürdig, gefährlich oder gar rechtswidrig sind.

Die inspirierende Entwicklung anthroposophischer Praxisfelder hat trotz der befremdlichen Ideologie stattgefunden. Dem Großteil der Menschen, die mit anthroposophischen Produkten zu tun haben, ist nicht bewusst, welche Weltanschauung dahinter steht. Vielen ist es wohl auch gleichgültig. Es kann festgestellt werden, dass die anthroposophische Weltanschauung selbst seit Anfang des 20. Jahrhunderts sich nicht weiter entwickelt hat. Es ist nichts neues dazugekommen. Es wird immer noch Rudolf Steiner zitiert.

In der anthroposophischen Praxis werden Methoden angewendet, die im 21. Jahrhundert nicht mehr akzeptabel sind. In der Waldorfpädagogik wird noch esoterisches Wissen vermittelt; Homöopathie ist wesentlicher Bestandteil der anthroposophischen Medizin, obwohl erwiesen ist, dass deren Wirkung nicht über den Placeboeffekt hinausgeht; in der anthroposophischen Heilpädagogik sind Karma und Wiedergeburt gängige Begriffe; in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft wird mit kosmischen Kräften, die nach astrologischen Aspekten betrachtet werden, gearbeitet.

Es braucht heute eine Bewusstwerdung dieser fragwürdigen anthroposophischen Methoden, die tagtäglich angewendet werden. Rassismus hat in einer modernen Weltanschauung nichts zu suchen. Astrologie und Hellseherei gehören auf den Jahrmarkt aber nicht in die Wissenschaft. Karma und Reinkarnation als Kriterien in der Betrachtung von Schutzbefohlenen ist mit der Menschenwürde nicht vereinbar.

Anstatt an einer stehengebliebenen Weltanschauung festzuhalten, sollte die anthroposophische Bewegung ihre Methodik auf den Prüfstand stellen und unzeitgemässe Methoden abschaffen. Die Anthroposophen haben gute Arbeit geleistet. Es ist nun aber Zeit, im 21. Jahrhundert anzukommen.

Warum die Anthroposophie sich den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen muss:

Aufgrund antisemitischer Aussagen Rudolf Steiners in seinen Vorträgen, Büchern oder Briefen sieht sich die Anthroposophie bzw. als deren offizielles Organ, die Anthroposophische Gesellschaft, immer wieder gezwungen zu betonen, dass die anthropsophische Lehre mitnichten antisemitisch ist, dass sie alle Religionen respektiert und Religionsfreiheit unantastbar ist. Auf öffentlichen Druck musste sie dennoch zugeben, dass einzelne Passagen aus dem Werk Steiners rassistisch und antisemitsch sind. Zuletzt gibt es erste anthroposophische Institutionen, die sich sich von diesen Aussagen auch distanzieren. Alles in allem sind diese Distanzierungen halbherzig und unehrlich. Nötig wäre eine bedingunslose Verwerfung anthroposophischer Ideen über Rassenlehre und Religionsgeschichte.
Rudolf Steiners Aussagen über das Judentum waren nicht nur dem Zeitgeist Anfang des 20.Jahrhundert geschuldet. Dieser erlaubte eine Verurteiluung der jüdischen Religion, die Formulierung von jüdischen Verschwörungsmythen und die Stigmatisierung der Juden. Die anthroposophische Lehre zur Menschheitsentwicklung sieht in der Geburt der Persönlichkeit des Jesus Christus die entscheidende Wendung der menschlichen Entwicklung, ohne die eine Entwicklung eines Ich-Bewusstseins nicht möglich gewesen wäre. Die Christusgestalt ist demnach nicht nur ein Religionsgründer, sondern der Prototyp des Ichs und gleichzeitig Impulsgeber für die weitere menschliche Entwicklung.
Da die Anthroposophie sich als Wissenschaft und ausdrücklich nicht als Religion versteht, ist die Entstehung des Christentums und seine Gültigkeit für die ganze Menschheit eine selbstverständliche Tatsache. Jeder, der sich selbst als Ich anspricht, ist vom Christusimpuls durchdrungen. Andere Religionen sind demnach Vorstufen des Christentums und auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe. Besonders das Judentum, das Jesus Christus nicht als den Impulsbringer der Menschheit erkannt hat, ist folglich als unterentwickelt anzusehen. Andere Religionen als das Christentum gehören der Vergangenheit und werden von selbst aussterben.
Das Werk Rudolf Steiners und damit die Lehre der Anthroposophie ist ein ausgeklügeltes und komplexes System, in dem die Christusfigur die zentrale Rolle spielt. Eine nichtchristliche Religion hat denselben Stellenwert wie der Affe zum Menschen. Sie hat eine Existenzberechtigung, aber gehört der Vergangenheit an. Sie sind weniger entwickelt. Wer andere Glaubensgemeinschaften lediglich toleriert, aber ihnen nicht denselben Stellenwert wie der eigenen zugesteht, konterkariert die formulierte Religionsfreiheit.
Der Zeitgeist gesteht dem Menschen zurecht nicht mehr das Recht auf Verfolgung und Diskriminierung Andersgläubiger zu wie es noch im 20.Jahrhundert der Fall war. Nach den traumatischen Erfahrungen der eigenen Inhumanität wird keine Religion mehr als höher- oder niedriger entwickelt angesehen. Die Anthroposophie hat diesen Schritt nicht getan. Sie glaubt als Wissenschaft kann sie am christlichen Weltbild festhalten. Religiöse, humane Aspekte spielen für sie keine Rolle. Darüberhinaus hält sie an Rudolf Steiner als Lehrer ihrer Erkenntnisse fest. Eine Distanzierung von seiner Rassen- und Entwicklungslehre würde das ganze Weltbild in Frage stellen. Ohne eine Korrektur ihrer Erkenntnisse und ohne eine klare Distanzierung von Rudolf Steiner ist die Lehre der Anthroposophie eindeutig antisemitsch.

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